
«Wo Mauern und Steine sprechen können»
- März 6, 2015
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Nordburgund Am Anfang war alles nur eine verrückte Idee. Wäre es heute noch möglich, eine komplette Burgenanlage nach Plänen des frühen 13. Jahrhunderts zu errichten? Nicht mit den technischen Möglichkeiten von heute, sondern genau so, wie Steinmetze, Maurer und Zimmerleute vor fast 800 Jahren gearbeitet haben?
Für Michel Guyot und Maryline Martin, Initiatoren eines der ambitioniertesten Projekte in der Geschichte experimenteller Archäologie, hat sich diese Frage niemals gestellt. Sie glaubten fest daran, dass ihr gemeinsamer Traum am Ende tatsächlich Stein für Stein Realität werden würde. Dabei war beiden bewusst: Viele der zeitgenössischen Techniken, Werkzeuge und ihr Gebrach waren im Lauf der Zeit längst in Vergessenheit geraten. Wofür Handwerker und Bauleute im Mittelalter deshalb nur wenige Jahre benötigt hatten, dazu würden ihre Nachfolger im 21. Jahrhundert länger als ein Vierteljahrhundert brauchen. Doch das empfanden die beiden Pioniere eher als Herausforderung.
Als Vorbild diente der Louvre
Im Département Yonne im Nordwestzipfel von Burgund, unweit von Treigny, fanden beide in den endlosen Eichenwäldern von Guédelon, denen das Projekt auch seinen Namen verdankt, schliesslich den geeigneten Ort, um dieses Mammutprojekt zu verwirklichen. Hier gab es alles, was für den Bau einer Burg im sogenannten philippinischen Stil nötig war: einen aufgelassenen alten Steinbruch, jede Menge Sand, eisenhaltiges Erz und natürliche Pigmente, genügend hochwertiges Bauholz und vor allem Wasser.
Der architektonische Archetyp, an dem sich das Wissenschaftler- und Ingenieurteam um Chefarchitekt Jacques Moulin bei der Planung der Anlage orientierte, steht übrigens mitten in Paris: der Louvre. Das heute weltberühmte Museum war ursprünglich eine Befestigungsanlage – Reste sind in den Untergeschossen bis heute erhalten geblieben – aus der Zeit König Philipps des II., der während seiner Regierungszeit in den Jahren zwischen 1180 und 1223 in ganz Frankreich Dutzende dieser wehrhaften Burgen nach dem Vorbild des Louvre errichten liess als Schutz vor englischen Invasoren. Typisch war dabei eine rechteckige Grundform mit zylindrischen Wehrtürmen – davon ein Hauptturm –, die niemals mehr als 50 Meter auseinanderlagen, was der durchschnittlichen Reichweite eines mittelalterlichen Bogens entsprach. Wichtige Erkenntnisse über mittelalterliche Bautechniken und Werkzeuge gewann das Team im Vorfeld u.a. durch Darstellungen auf den Kirchenfenstern der Abtei von Chartres oder mittelalterliche Buchillustrationen.
Als Guyot, im «Hauptberuf» Schlossherr des nur zehn Minuten von Guédelon entfernt gelegenen Château von Saint-Fargeau, und Martin am 20. Juni 1997 schliesslich den Grundstein für Guédelon legen konnten, wurden sie von vielen Kritikern nur milde belächelt. Heute, mehr als 17 Jahre später, besuchen Jahr für Jahr rund 300’000 Menschen die Baustelle unter Leitung von Florian Renucci und erleben dort live mit, wie die Burg jeden Tag ein paar Zentimeter höher in den Himmel wächst. Während der abgelaufenen Kampagne standen u.a. der Weiterbau des Kapellenturms und die zweite Etage des Burgfrieds im Mittelpunkt.
Arbeiten von archäologischem Wert
Neben einem Team von knapp 70 Profis arbeiten während der Saison von Mitte März bis Anfang November auch bis zu 700 Freiwillige in den verschiedenen Werkstätten auf dem weitläufigen Gelände mit, und die meisten kommen wieder. So auch Bertrand, Olivier und Frederic. Die drei Freunde aus Nantes kommen seit mittlerweile zehn Jahren regelmässig im Spätsommer mit frischen Austern und Muscadet im Gepäck nach Guédelon. Im echten Leben arbeiten sie als Zimmermann, Dekorateur und Informatiker. Was sie, wie die meisten ihrer Kollegen, fasziniert, ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die ein grosses Ziel verfolgt: Guédelon eines Tages vollendet zu sehen! Zwischen vier Tagen und einer Woche helfen sie und andere Bénévoles den Profis dann, Steine zu behauen, Ziegel zu brennen, Mörtel anzurühren, Pigmente für Wandmalereien zu zerstossen und Stoffe einzufärben, Hanfseile zu flechten oder Nägel und alle auf der Baustelle benötigten Eisenwerkzeuge zu schmieden – alles soll in Guédelon genau so gemacht werden wie im Hochmittelalter. Die Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, sind für Archäologen von unschätzbarem Wert: Wie wurde ein mittelalterliches Kreuzgewölbe gemauert, wie wurden die gewaltigen hölzernen Dachstühle des Palas montiert, wie gelang es, die aus vertikal verlaufenden Schichten aufgebauten Burgmauern so zu stabilisieren, dass sie auch mit fünf, zehn oder mehr Metern Höhe nicht unter dem eigenen Gewicht kollabierten? In der Theorie war das alles längst geklärt – aber in der Praxis sah alles ein wenig anders aus … Mittlerweile haben die ersten Handwerker sogar eine komplette Ausbildung in Guédelon abgeschlossen und verfügen über ein technisches Know-how, das sie zu gefragten Experten für Restaurationsarbeiten auf der ganzen Welt macht. Mittlerweile sind rund zwei Drittel der Burganlage fertiggestellt. Wenn das Projekt, voraussichtlich um das Jahr 2025, abgeschlossen sein wird, misst der Hauptturm – einer von insgesamt sechs – stolze 30 Meter. Doch Martin und Guyot sind sich schon heute sicher: Das ist nicht das Ende von Guédelon, sondern erst der Anfang. Schon wird diskutiert, ob rund um die Burganlage nicht ein komplettes mittelalterliches Dorf entstehen soll.
Ora et Labora
Es war sicher kein Zufall, dass die Initiatoren von Guédelon ihr Projekt in Burgund und damit einer der bedeutendsten alten Kulturlandschaften Europas realisieren wollten. Schon vor mehr als 2000 Jahren war das antike Alesia, das heutige Alise-Sainte-Reine im Zentrum des Département Côte-d’Or ein bedeutsamer Schauplatz der Weltgeschichte. Im Spätsommer des Jahres 52 v. Chr. fand hier die letzte der grossen galloromanischen Schlachten zwischen den Legionen Julius Caesars und den Truppen des Averner-Fürsten Vercingetorix statt, der vergeblich versucht hatte, mithilfe der vereinten Stämme Galliens die Unabhängigkeit von Rom zu erlangen. Zum Mythos wurde dieses historische Ereignis, das Roms Vormachtstellung in Gallien über Jahrhunderte hinweg sichern sollte, schliesslich mit Caesars Werk «De bello Gallico», und erst im letzten Jahr wurde auf dem historischen Schlachtfeld ein spektakulärer Museumsneubau errichtet.
Rund 1100 Jahre später hatte sich die Bourgogne dann zum spirituellen Zentrum des Kontinents entwickelt mit dem 1098 gegründeten Kloster von Cîteaux im Zentrum. Es war Keimzelle und Namensgeber der einflussreichen zisterziensischen Reformbewegung, die der unweit von Dijon geborene heilige Bernhard als Abt von Clairvaux, Cîteaux‘ Schwesterkloster in der Champagne, ab dem Jahre 1112 schliesslich in ganz Europa verbreitete. Diese Rückbesinnung auf das monastische Credo des «ora et labora», des «bete und arbeite», wurde so innerhalb weniger Jahrzehnte zum asketischen Gegenentwurf zur immer üppiger werdenden Prachtentfaltung in Benediktinerabteien wie Cluny, die zu dieser Zeit eher an Fürstenhöfe erinnerten. Ihre grösste Blütezeit aber erlebte die Region von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, als sich das Herzogtum Burgund unter Philipp dem Kühnen, Johann Ohnefurcht und Philipp dem Guten von den Niederlanden über Flandern bis weit nach Süden in die Franche-Comté und die heutige Region Rhone-Alpes erstreckte. Erst mit dem Tod Karl des Kühnen im Jahre 1477, des letzten der grossen Herzöge von Burgund, fiel das burgundische Kernland als Krohnlehen zurück an Frankreich, das Territorium der heutigen Beneluxstaaten durch geschickte Heiratspolitik an das Haus Habsburg.
In Vino Veritas
Gleichzeitig ist dieser blühende Landstrich heute natürlich vor allem für seine hervorragenden Weine – der Rebbau hat ebenfalls eine mehr als 2000 Jahre zurückreichende Tradition – und die exzellente regionale Küche bekannt. Weinfans geraten bei Namen wie Romanée-Conti, La Tasche, Richebourg, Clos Vougeot, Pommard, Chambertin, Meursault, Volnay, Nuit-Saint-Georges, Corton-Charlemagne oder Montrachet ins Schwärmen. Keine andere Region Frankreichs bringt auf so engem Raum aus grade mal zwei Rebsorten – Pinot Noir und Chardonnay – kontrastreichere Weine hervor, was den Burgunder zum Inbegriff des Terroir-Weines macht. Auf Feinschmecker warten dagegen typische Spezialitäten wie Escargots, die hier nicht nur klassisch mit Knoblauch- oder Rotweinbutter, sondern in unendlich vielen Kombinationen auftauchen, z.B. mit Flussfischen wie Zander oder Hecht; ausserdem das hochgeschätzte Geflügel aus der Bresse, das Fleisch der schneeweissen Charolais-Rinder, Grundlage des Bœf bourguignon, der herzhafte, von Zisterziensermönchen erfundene Epoisses-Käse, feine Lebkuchen (Pain d’epices), der berühmte Dijonsenf oder rustikaler Petersilienschinken (Jambon persillé). Und natürlich müssen es nicht immer Touristenmagneten wie Beaune oder Dijon, die Côte-d’Or oder die Côte de Nuits sein.
Ein guter Einstieg für eine Entdeckungsreise in Geschichte und Kultur Burgunds ist z.B. das wie Guédelon ebenfalls im Nordwesten der Region gelegene Auxerre, Hauptstadt des Départements Yonne. In dem am Ufer des gleichnamigen Flusses gegründeten Städtchen, das heute rund 40’000 Einwohner zählt, lockt nicht nur eine imposante gotische Kathedrale mit bedeutenden romanischen Fresken, sondern auch ein pittoresker mittelalterlicher Stadtkern. Etwa eine Autostunde von Auxerre entfernt liegt unweit von Vassy les Avallon La Cimentelle. Ein luxuriöser Landsitz, der vor einigen Jahren in ein exklusives B&B mit Familienanschluss umgewandelt wurde und sich dank seiner zentralen Lage perfekt als Ausgangspunkt für eine Erkundung der Nordhälfte Burgund eignet. Das elegante Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, das sich in der siebten Generation in Familienbesitz befindet, bietet ein halbes Dutzend geschmackvoll eingerichteter Zimmer und Apartments. Die Eigentümer Nathalie und Stéphane verwöhnen ihre Gäste am Abend stilecht in der hauseigenen Küche mit klassischen Burgunder Spezialitäten wie z.B. œufs (grosses œ) en Meurette, pochierte Eier in Pinot-Noir-Sauce, hausgemachter Foie Gras und edlen Tropfen im Stile eines klassischen Table d’hôte. Ihr Handwerk haben beide übrigens am prestigeträchtigen Institut Paul Bocuse in Lyon gelernt. Das schmeckt man. Entspannung findet der Besucher im weitläufigen Park oder dem spektakulären Pool hoch auf einer stählernen Empore in den Ruinen einer benachbarten Zementfabrik aus dem frühen 19. Jahrhundert.
Unesco-Weltkulturerbe & Route des Grands Crus
Von La Cimentelle erreicht man Guédelon in knapp einer Autostunde. Ebenfalls sehenswert: die nahe gelegene, zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Basilika von Vézelay aus dem 12. Jahrhundert, erster gotischer Kirchenbau ausserhalb des französischen Kernlandes und im Mittelalter einer der wichtigsten Wallfahrtsorte Europas. Lohnend ist aber auch das idyllisch in einer bewaldeten Talsenke gelegene und ebenfalls auf der Unesco-Liste geführte, ehemalige Zisterzienser-Kloster von Fontenay – ein Musterbeispiel der schmucklosen, aber gerade deshalb umso beeindruckenderen Zisterzienser-Architektur. Von hier ist es dann nur noch ein Katzensprung zur weiter südlich verlaufenden Route des Grands Crus.
Wer einmal mitten in den Weinbergen schlafen will, kann das hier z.B. in der Villa Louise am Ortsrand von Aloxe-Corton. Das Anwesen aus dem 17. Jahrhundert bietet 13 geschmackvolle Zimmer und Suiten mitten in den Rebbergen der Côte de Beaune. Alle bedeutenden Weingüter der Region sind von hier aus in nicht mehr als einer halben Stunde zu erreichen, die berühmte Maison Louis Latour liegt gleich nebenan. Aber natürlich kommen auch Liebhaber der Sterneküche im Burgund auf ihre Kosten, denn die Region hat gleich drei Restaurants mit höchsten kulinarischen Weihen zu bieten: das Relais Bernard Loiseau in Saulieu in dem Patrick Bertron das Zepter schwingt, das La Côte Saint-Jacques in Joigny unter Ägide von Jean-Michel Lorain und das Lameloise in Chagny, wo Éric Pras am Herd steht – alle drei Adressen gehören übrigens zur prestigeträchtigen Relais&Château-Gruppe. Dazu kommen 26(!) weitere Michelin-gekrönte Adressen mit einem und zwei Sternen. Aber auch für das etwas schmalere Reisebudget bietet der Landstrich zahllose empfehlenswerte Alternativen!