
Wandern auf dem letzten Zipfel Europas
- März 19, 2019
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- Urs Huebscher
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Wer über die Klippen und Moore am zerklüfteten Aussenrand Europas wandert, muss damit rechnen, dass ihm das harsche Klima kräftig zusetzt. Lässt man sich von Wind und Regen nicht abschrecken, wird man von der atemberaubenden Schlichtheit der wilden Küstengegend im Südwesten Irlands verzaubert sein.
Furchtsam tasten wir uns ans Ende der Welt vor. Auf allen vieren wie die Schafe, die diese trügerische Wiese mit ihren Kötteln übersät haben. Stopp! Keinen Zentimeter weiter. Wer weiss, wie dünn das Stückchen Klippe ist, das hier weit in den Atlantik hinausragt. Auf dem Bauch liegend äugen wir mehr als hundert Meter in den Abgrund hinab. Dies ist der letzte Zipfel Europas, ein Aussenposten der Erde, angenagt von den Elementen, heimgesucht von geheimnisvollen Kräften.
Wer im Südwesten Irlands unterwegs ist, marschiert über weite Strecken an Klippen, Abgründen, und Nebelwänden entlang. Das Nichts stets vor Augen, gewinnt das Wandern auf weichen Sumpfböden zwangsläufig eine metaphysische Dimension. Besonders, da man hierzulande in regelmässigen Abständen an prähistorischen und frühchristlichen Stätten vorbeispaziert, die der kargen Landschaft eine spirituelle Note verleihen. Überall stösst man auf Menhire, Gräber, Wälle, mysteriöse Ruinen oder grobe Felsenkreuze, die sich perfekt in das gigantische Netz aus Trockensteinmauern einfügen. Einmal führt unser Weg durch schwarze Torfmoore an einem kleinen Brunnen vorbei, der dem heiligen Brendan geweiht und mit Ketten, Marienfiguren, Kruzifixen und sogar einem Plastikbuddha geschmückt ist. Ein anderes Mal stehen wir im alten Gemäuer der Derrynane Abbey, die in den Dünen vor sich hinbröckelt. Das Gelände ist von Grabsteinen übersät, sogar im Inneren dessen, was von der Kirche übriggeblieben ist, werden noch heute Menschen beerdigt. Besonders gut erhalten ist die schlichte Steinkirche von Gallarus. Sie sieht wie ein umgedrehtes Boot aus und besteht vollständig aus sorgsam übereinander geschichteten Felsbrocken, die so genau aufeinanderpassen, dass einem ganz unheimlich zumute wird, wenn man in das düstere Innere tritt.
Kilometerlange Traumstrände
Die karge Gegend steckt voller Geheimnisse und voller Geschichten von grossen Asketen und meisterlichen Magiern, von Heiligen, die in Steintrögen über das Meer paddelten, und Mönchen, die mit Bären sprechen. Im County Kerry muss man auf alles gefasst sein. Auch darauf, bis zum Oberschenkel im Schlamm zu versinken. Ob es trotzdem Spass macht? Ja, und wie! Lachend kauern wir während eines Sturms hinter einem Felsen, trinken Tee, essen Räucherlachs und schauen auf einen kilometerlangen, strahlend weissen Strand hinunter, an dem man vermutlich nur wenige Tage im Jahr baden kann.
Die Landschaften im Südwesten Irlands sind so gewaltig und schön, dass man dafür vieles in Kauf nimmt, was einem das Wandern anderswo vergällen würde. Den Wind, die Kälte, den Regen: kurz, ein Klima, das uns jeden Morgen von Neuem zusetzt. Gar nicht so einfach, die Jacke anzuziehen, wenn sie wie ein wilder Drachen im Sturm knattert, sobald man den Stoff aus dem Rucksack zieht.
Besonders gemütlich kann das Leben hier nie gewesen sein. Und doch war die abgelegene Küste einigen Mönchen offensichtlich noch nicht karg und rau genug. Sie strebten einen totalen Rückzug aus dem weltlichen Leben an. Draussen im offenen Meer, ein Dutzend Kilometer von unserer Klippe entfernt, ragen zwei Felsen in die Höhe. Steile Zacken, völlig ungeeignet für jegliche Form der Besiedlung. Die Idee, ausgerechnet hier ein Kloster zu bauen, war tollkühn, um nicht zu sagen verrückt. Im 7. Jahrhundert ruderten die tatkräftigen Brüder zu den Skellig-Inseln hinaus. Im Laufe von Jahrzehnten hieben die Männer Stufe für Stufe in den sturmumtosten Stein, ehe sie auf 180 Metern Höhe steinerne Hütten errichteten, die ihnen als Unterschlupf und Gebetshäuser dienten. Auf winzigen Plateaus, die die Mönche eigenhändig aufgeschichtet hatten, lebte die Gemeinschaft mit einem absoluten Minimum an Raum und Ressourcen. Vogeleier, Kräuter, Fisch und die Milch einiger weniger Ziegen und Schafe bildeten ihre Nahrung. Wie glühend und gleichzeitig hemdsärmelig muss der Glaube dieser Männer gewesen sein! Kein Wunder, dass die irischen Heiligen halb Europa missionierten, die Klöster von Sankt Gallen und Bobbio gründeten und sich beim Vatikan mit ihrem eigensinnigen Christentum unbeliebt machten. Auch heute noch ist die Klosterinsel Skellig Michael schwer zu erreichen. Bei starken Winden und hohem Wellengang ist die Landung nicht zu schaffen. Nicht so schlimm, im County Kerry gibt es wahrlich genug wunderbare Wandertouren, mit denen wir uns die Zeit vertreiben können. Mal marschieren wir an Lochs vorbei durch das gebirgige Landesinnere, mal erklimmen wir Eagle Mountain auf der Dingle-Halbinsel, mal umrunden wir Valentia Island. Das Wetter ändert sich stündlich: Wolken, Sonne, Sprühregen wechseln einander ab. Nur der Wind bläst ohne Unterlass.
Legenden, Guinness und Volksmusik in den Pubs
Besonders stark böht er auf, als wir am Culloo Head auf Valentia Island unterwegs sind. Unermüdlich wirft sich das Meer gegen die Felsen, Wolken von Gischt segeln über die Klippen und landen als Schaumkissen auf dem Moos. Kaum vorstellbar, dass dies eine beliebte Stelle für Angler sein soll und unter Makrelenfischern Legendenstatus hat.
«Ein schlimmer Ort», sagt Andrew Quigley, der uns nach dem Frühstück zum Ausgangspunkt unserer Wanderungen bringt und abends wieder abholt. «Plätze wie Culloo Head machen die Fischer verrückt, sie vergessen die Gefahren.» «Am Culloo Head habe ich schon elf Tote geborgen», erzählt er. Solche Geschichten gibt es zuhauf, und man erzählt sie uns bei dunklem Stout in den Pubs von Portmagee oder Dingle. Früher, so erfahren wir, wurden die Ertrunkenen an den Mustern ihrer Strickpullis identifiziert und ja, die Häuser in der Bucht Soundso wurden von ihren Bewohnern verlassen, als die Hebamme auf dem Weg zu einer Geburt vom Sturm ins Meer geblasen wurde. So gruselig sind zum Glück nicht alle Anekdoten, und dann verstummen die Gäste, und ein Mann mit Schiffermütze stimmt ein Lied an, das durch Mark und Bein geht. Jubel, Klatschen, Bier. Schon ziehen wir mit einer ganzen Meute uns völlig unbekannter Menschen in den nächsten Pub. Cheers! Wir trinken auf die Mönche und die Heiligen und hoffen, dass der Sturm nachlässt, damit wir endlich auf die Skellig kommen …
Nice to know !!!
Rolf Meier Reisen in Neuhausen am Rheinfall ist ein spezialisierter Reiseveranstalter für Irland und bietet begleitete Wanderreisen auf der Grünen Insel an.