
Von Pilgerpfaden und Meeresfrauen
- Oktober 13, 2017
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Ich muss ungefähr zwölf gewesen sein, als ich «Godzilla» zum ersten Mal im Fernsehen gesehen habe. Das 1954 von Kult-Regisseur Ishirō Honda in Schwarzweiss produzierte Leinwanddebüt des Monstersauriers mit der durchdringenden Reibeisenstimme gilt bis heute als genreprägendes Meisterwerk des Creature-Horror.
Die Seele Japans
Mittlerweile gibt es mehr als dreissig Kinostreifen, in denen Gojira, wie die Killerechse in Japan genannt wird, die Hauptrolle spielt. Gedreht wurde das Original rund 300 Kilometer südwestlich der Bucht von Tokio auf der Halbinsel Shima, die 1946 zum Nationalpark erklärt wurde und den Einheimischen dank mildem See-Klima und unberührter Natur schon seit Jahrhunderten als «umashikuni» gilt, als «Landstrich aussergewöhnlicher Schönheit». Doch Ise-Shima, wie die Region im Osten der Präfektur Mie traditionell ebenfalls genannt wird, ist den meisten Japanern nicht in erster Linie als Filmkulisse ein Begriff. Vielmehr sehen viele den zerklüfteten Küstenstreifen mit seinen unzähligen Buchten, einsamen Stränden und mehr als 60 vorgelagerten Inseln, die auf dem Festland in dicht mit Ahorn, Zedern und Pinien bewaldetes Hügelland übergehen, vor allem als das spirituelle Zentrum des stolzen Inselreichs an. Liegt hier mit dem Ise-jingū oder «Grossen Schrein» doch das bedeutendste Shintō-Heiligtum des Landes – die Seele Japans.
Shintōismus – der «Weg der Götter» – ist eine nur im Reich der aufgehenden Sonne verbreitete Glaubensrichtung, in deren Mittelpunkt als «Kami» bezeichnete Gottheiten stehen. Diese können die Gestalt von Tieren, den eigenen Ahnen, aber auch Naturobjekten wie Bäumen, Felsen oder markanten Berggipfeln (Fuji-san) annehmen, die in landesweit mehr als 80ʼ000 Schreinen verehrt werden. Insofern trägt der Shintōismus, zwischen 1868 und 1945 sogar offizielle Staatsreligion mit dem Gottkaiser an der Spitze, Züge eines polytheistischen Naturritus. Gleichzeitig ist er klar diesseitsbezogen und frei von Dogmen oder feststehenden Glaubenssätzen. Obwohl die Geschichte des Ise-jingū mehr als 1300 Jahre zurückreicht, wurden die Tempelanlagen erst im Jahr 2013 errichtet – dem Beginn des 62. Erneuerungszyklus oder Shikinen-sengū. Traditionsgemäss werden Shintō-Schreine nämlich alle 20 Jahre durch einen Neubau ersetzt – das nächste Mal also 2033. Im Allerheiligsten des Grossen Schreins, dem Kōtai-jingū, wird von den Priestern die Sonnengottheit Amaterasu-ōmikami verehrt – mythische Urahnin des Tennō und Schutzgottheit der japanischen Nation. Deshalb gilt der Ise-jingū auch als bedeutendstes Pilgerziel des Landes, das jährlich mehr als sechs Millionen Besucher anzieht. Gleichzeitig ist die Kultstätte Endpunkt einer Pilgerroute entlang des Kumano Kodō, des «alten Weges», der mehrere bedeutende Schreine in den Nachbarpräfekturen Wakayama und Nara mit dem Ise-Heiligtum verbindet und dessen mythische, jahrhundertealte Pfade seit 2004 als UNESCO-Weltkulturerbe gelistet sind.
Pilgern und shoppen
Gleich neben dem Eingang zum inneren Bezirk des Grossen Schreins erstreckt sich parallel zum Fluss Isuzu mit der Oharaimachi-dori eine rund 800 Meter lange Einkaufsstrasse. Hier machen die Pilgermassen nach ihrer Stippvisite bei der Sonnengöttin oder einem der 124 Nebenschreine des insgesamt 5500 (!) Hektar grossen, teilweise dicht bewaldeten Tempelareals Jagd auf kulinarische Souvenirs. Undenkbar, nach einer Pilgerfahrt ohne ein schmackhaftes Mitbringsel zur Familie oder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Noch interessanter als die zahllosen regionalen Spezialitäten, die hier feilgeboten werden, aber ist die traditionelle Architektur der teilweise in die Edo- (1603–1868) bzw. Meiji-Periode (1868–1912) zurück datierenden Gebäude entlang dieser beliebten Shoppingmeile.
Begierig, tiefer in die geheimnisvolle Welt japanischer Mystik einzutauchen, treffen wir am nächsten Morgen im kleinen Städtchen Tsu, gut eine Autostunde vom Ise-jingū entfernt, Florian Wiltschko (29). Der gebürtige Österreicher ist der einzige Ausländer, der im Mutterland des Shintō ein Priesteramt bekleidet. Bei einer Tasse grünem Tee erklärt er Besuchern geduldig die oft religiösen Hintergründe einiger typisch japanischer Vorlieben. Zum Beispiel der für androgyne Manga-Charaktere mit grossen runden Kulleraugen, die auch das gängige Schönheitsideal Nippons prägen oder schlicht alles, was den Japanern als «kawaii», als «niedlich», gilt. «Menschen aus dem Westen finden das oft eher befremdlich», weiss Wiltschko, «tatsächlich wurzelt diese Faszination aber in der traditionellen Wertschätzung, die Neugeborene bzw. kleine Kinder im Shintōismus geniessen, wo sie als vollkommene Wesen gelten.»
Meeresfrauen und Meeresfrüchte
Doch Ise-Shima ist nicht nur ein Hort der Spiritualität. Die ruhigen Küstengewässer sind auch für ihre maritimen Delikatessen bekannt. Tatsächlich stehen die lokalen Muscheln und Seeigel, vor allem aber Austern, Abalone, Tiger-Fugu und Langusten (Ise-ebi) bei Japans Küchenchefs und Feinschmeckern in solch hohem Ansehen, dass sie auf dem Tokioter Tsukiji-Fischmarkt regelmässig Höchstpreise erzielen. Mindestens ebenso berühmt wie diese Meeresfrüchte aber sind die Menschen, die sie ernten – die «Meeresfrauen» oder kurz Amas. Zu ihnen gehören auch Chizuko Nakamura (64) und Sanayo Matsui (65), beide bereits seit über 40 Jahren im Geschäft, die wir in ihrer winzigen Fischerhütte bei Toba besuchen. Heute gibt es allerdings nur noch knapp 2000 dieser Freitaucherinnen, denn die Arbeit ist hart, zumal es mittlerweile selbst in ländlichen Küstenregionen für junge Frauen deutlich attraktivere Joboptionen gibt. Ausserdem sind die natürlichen Ressourcen vor Japans Küsten durch Überfischung mittlerweile ernsthaft bedroht. Deshalb dürfen die verbliebenen Amas, traditionell in weisse Baumwollgewänder gehüllt, unter denen sie heute allerdings meist moderne Neoprenanzüge tragen, auch nur noch an 50 Tagen im Jahr auf Unterwasserjagd gehen. Mit dem Bewirten von Gästen verdienen sich die Ama-san deshalb ein Zubrot. Dank einer speziellen Atemtechnik erreichen die Taucherinnen Wassertiefen von fünf bis maximal 20 Metern. Dort bleiben ihnen dann aber nur wenige Sekunden zum Einsammeln der Schalentiere. Während Chizuko und Sanayo für unser Mittagessen eine bunte Auswahl lebendfrisches Meeresgetier kunstvoll auf einem rot glühenden Holzkohlengrill drapieren – kein Anblick für Menschen mit zartem Gemüt –, erzählen sie vom Alltag in ihrem Dorf. Mit ein wenig Glück könne man als Am manchmal in nur ein bis zwei Stunden umgerechnet 1000 Euro verdienen, flüstert Frau Nakamura dabei verschwörerisch. Trotzdem wollen auch ihre beiden Töchter nicht in ihre Fussstapfen treten.
Matsusaka-Beef
Aber kulinarische Spezialitäten gibt es in Mie nicht nur unter Wasser – auch das Matsusaka-Beef aus dem hohen Norden der Halbinsel Shima geniesst in Japan, ähnlich wie Rindfleisch aus Kōbe und Yonezawa, Kultstatus. So kostet ein Kilo Filet vom Matsusaka Black Line Wagyū in den Luxuskaufhäusern auf der Tokioter Ginza schon mal 80ʼ000 Yen – umgerechnet rund 650 Euro. Dafür zergeht das Fleisch, dessen Fett einen besonders niedrigen Schmelzpunkt hat, dann aber auch auf der Zunge. Kein Wunder – werden die Tiere doch erst mit über drei Jahren geschlachtet und geniessen bis dahin ein königliches Leben inklusive regelmässiger Massageeinheiten und dem einen oder andern Fläschchen Bier, das hilft, den Appetit anzukurbeln. Kein Scherz. Eines der berühmtesten Restaurants in Matsusaka – das «Wadakin» – hat sich deshalb auch ganz dem Tanz ums goldene Kalb verschrieben. Egal, ob in Form von Shabu-shabu, für das dünne Rindfleischscheiben elegant in kochend heisser Brühe gewendet, oder als Sukiyaki, bei dem Beef und Gemüse in einer süsslichen Marinade aus Sojasosse, Mirin und Zucker geköchelt werden – das Ergebnis ist beide Male köstlich! Nur an einer Fettphobie sollten Gäste besser nicht leiden. Nach dieser Völlerei ist es nun aber höchste Zeit für ein entspannendes Onsen-Bad!
Onsen – baden auf Japanisch
Dank seiner Lage entlang des pazifischen Feuergürtels gibt es in Japan mehr als 30ʼ000 heisse, mineralienreiche Quellen und rund 3000 Bäder- und Kurorte – besonders viele entlang der Ostküste. So locken auch in Ise-Shima zahlreiche Ryokans, traditionelle japanische Gästehäuser, mit hauseigenem Thermalwasser. Die High-End-Variante: das im März 2016 auf einer Anhöhe oberhalb der Ago-Bucht eröffnete «Amanemu» – eines der exklusivsten Onsen-Hotels des Landes. Gäste wohnen in 24 grosszügigen Suiten (99 m²) bzw. vier Villen (375 m²) nach Plänen des Star-Architekten Kerry Hill, die allesamt über ein privates Onsen-Becken verfügen und den klassischen Baustil japanischer Minka-Bauernhäuser mit dem puristischen Aman-Look verbinden. Doch gebadet wird in Japan nicht nur im Hotel – vielmehr ist der Besuch eines der unzähligen öffentlichen Onsen ein beliebtes Entspannungsritual nach einem anstrengenden Arbeitstag. Dabei baden Männer und Frauen heutzutage, anders als früher, aber meist getrennt. Waschen muss man sich ohnehin schon vorher in einem separaten Bereich – und zwar demonstrativ gründlich. Schon aus Rücksicht auf die anderen Gäste. In die wohlig warmen Fluten steigen dann aber alle grundsätzlich nackt, nur ein taschentuchgrosses Tenugui, strategisch geschickt platziert, bedeckt dabei mehr schlecht als recht die eigene Blösse. Im Anschluss an das schweisstreibende Bad sollte man ausgiebig ruhen. Zur Stärkung gibt es traditionell Grüntee oder eine leichte Ramen-Suppe. Viel Spass!