
Undercover für Überflieger
- Februar 1, 2017
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Sylt, die Königin der Nordsee, ihr Mythos – viel beschrieben, oft zitiert. Eine Insel mit unterschiedlichen Gesichtern. Zwischen rauer See und stillem Watt. Für die einen Sehnsuchtsort, Inspiration und Bühne, für die anderen perfektes Urlaubsglück, Arbeitsplatz und Heimat. Aber was genau macht das Sylt-Phänomen aus? Sylt liegt auf der Höhe der deutsch-dänischen Grenze, mit dem Festland verbunden durch einen Bahndamm. Inselhauptstadt ist Westerland, fast die Hälfte der Bevölkerung lebt hier.
Wir blicken zurück auf die Zeit, als die Insel der Reichen und Schönen geboren wurde. Es begann in den 1960er-Jahren und nahm seinen wilden Lauf in den 1970ern. Der Jetset vereinnahmte Sylt auf Geheiss des Gentleman-Playboys Gunter Sachs (1932–2011). Der Multimillionär und Frauenschwarm zog mit seinem Charisma die High Society in seinen Bann, und diese folgte der Ikone nach Kampen.
Das Dorf wurde zur Lifestyle-Hochburg und sozusagen zum Inbegriff von deutschem Laissez-faire. Legendär wurde das «Gogärtchen», eine Bar mit Garten in einer bis dato unbekannten Strasse. Umbenannt in die «Whiskeymeile» erlangte sie Weltruf. Die Dünen von Kampen wurden zum Hotspot für ausgelassene Partys und eine neue Freizügigkeit, man feierte das Leben, liess die Hüllen fallen und lieferte der Klatschpresse reichlich Futter. So entstand das Sylt-Feeling, das sich bis heute gehalten hat.
«Das raue Klima, viel Wind, hohe See, wenig Leute – der Winter passt zu dieser Nordseeinsel besser als jede andere Jahreszeit – ebenso wie die karge, erdverbundene Landschaft und die geduckten reetgedeckten Friesenhäuser mit verhaltenen Farben. Und genau das mag ich so an Sylt», sagt Pius Regli, er weiss, wovon er redet. Vor 38?Jahren kam der gebürtige Luzerner zum ersten Mal auf die Insel mit den vielen Gesichtern, die vom unberührten Naturparadies über das noble Seebad und die Künstlerkolonie bis zum Ballermann für Betuchte reichen. Es regnete in Strömen, kalt war’s und er fror in seinem VW Käfer. «Dabei dachte ich, die laufen hier alle nackt herum, deshalb war ich ja schliesslich hergekommen», erzählt er. «Der Film ‹Winnetou III› war ausverkauft damals in Luzern, da bin ich aus lauter Verzweiflung ins Kino nebenan gegangen. ‹Heisser Sand auf Sylt› hiess der Streifen und da lief ein nackter Mann mit drei nackten Mädels ins Meer hinein. Die hatten mächtig Spass, und das wollte ich hier auch haben.» Die Realität sah so aus, dass Pius erst mal dachte, dass er wirklich im falschen Film sei: «Kampen war wie ausgestorben, die Geschäfte mit Brettern vernagelt, da bin ich erst mal in die nächste Kneipe und habe mir einen angetrunken.» Dennoch ist er geblieben, heute ist Pius Gastgeber im legendären «Manne Pahl»-Restaurant und seit 23?Jahren in der «Pius Weinwirtschaft» in Keitum, einer Inselinstitution in der Gastronomieszene von Sylt. Und Prominente von Jogi Löw bis Boris Becker schätzen sein Frühstück im Wintergarten ebenso wie sein Wiener Schnitzel oder den unnachahmlich leckeren Pflaumenkuchen.
Natürlich habe die Insel sich verändert, meint Pius. «Vor allem ist sie durch die bessere Anbindung auch im Winter viel belebter geworden. Ein Glück, dass wenigstens zwei Drittel unter Naturschutz stehen.» Geblieben ist sein Faible für Sylt jenseits des Sommers: «Im Winter erleben wir die Natur noch intensiver. Bei Spaziergängen an der frischen Luft das Meer, das Licht und das Klima geniessen, herrlich. Und die langen Abende sind ideal für Wellness und gutes Essen. Leider sind die ganz kalten Zeiten lange her, als ich mit meinem Auto bei dichtem Schneetreiben zwischen Kampen und Westerland mal eingeschneit bin und auf den Eisschollen im Watt laufen konnte. Heute laufe ich am liebsten bei Westwind an der Watt- und bei Ostwind an der Brandungsseite, lasse mich ordentlich durchpusten und freue mich dann auf ein Glas guten Rotwein aus meinem Weinkeller – in solchen Winterstunden ist Sylt der schönste Ort der Welt für mich.»
So wie Pius geht es allen, die die populäre Urlaubsinsel gerne gegen den Strich gebürstet geniessen. Wenn dicke Windjacken angesagter sind als der Designbikini und das Glühweinglas besser in der Hand liegt als der Champagnerkelch. Wenn ab Ende September weit und breit kein Strandkorb mehr am kilometerlangen, leeren Strand zu sehen ist. Wenn Dünengras und Heidekräuter morgens vom Reif wie mit Puderzucker überzogen sind. Wenn nur noch Möwengeschrei das Meeresrauschen übertönt an der menschenleeren Strandpromenade von Westerland und der Hafen von List mit dem Erlebniszentrum kein Rummelplatz, sondern eine Oase der Ruhe ist. Wenn die reetgedeckten Kapitänshäuser von Keitum, das als Hauptort der Insel im 18.?Jahrhundert nur mit dem Eisboot zu erreichen war, sich bei Sturmstärke zehn noch tiefer in ihre Mulden ducken und das Heulen des Windes Musik in den Ohren der Besucher in der Strandsauna La Grande Plage am Kampener Leuchtturm ist. Dann gehören die «Hamptons der Hanseaten» nur den Einheimischen und den Besuchern, die ihre Liebe zur Insel nicht auf Partys laut herausschreien, sondern mit sich und der Natur verbunden ganz still geniessen.
Wer zwischen September und März nach Sylt fährt, und das sind immerhin laut Statistik rund 25?Prozent aller Sylt-Urlauber, der braucht vor allem das richtige Outfit.
Spätestens seit Golfprofi Nick Faldo, auch ein gern gesehener Gast auf der Insel, ein knappes Dutzend «Highlander» im Schrank liegen hat und kaum ein Wirtschaftskapitän mit Wochenendhaus in Kampen ohne den noblen Dress aufs Grün geht, gehört der Laden von Gabriele Ludwig zum Geheimtipp der Inselprominenz. Dort verkauft die ehemalige Marketing-Managerin von Escada und Jil Sander jetzt in der 13.?Saison ihre exklusiven, mit seidenweichem Hightech-Material gefütterten Cashmere-Pullover und -Jacken, die vor Wind und Wetter schützen.
Wer sich nach einem ausgiebigen Spaziergang aufwärmen möchte, kann im Keitumer Heimatmuseum so manche unterhaltsame Stunde verbringen, wenn die Dämmerung bereits am Frühnachmittag über Dünen und Deiche hereinbricht.
Dann müssen auch die Golfer die Grüns wesentlich früher räumen als im Sommer, allerdings können sie auf den vier Plätzen der Insel ganzjährig spielen. Der 18-Loch-Kurs des Golfclubs Budersand Sylt in Hörnum im Inselsüden ist einer der schönsten deutschen «Linkskurse». Mit langen Fairways, Roughs in den Dünen und tiefen Topfbunkern ist er mit Sicherheit der schwierigste Platz der Insel, der dazu noch grandiose Ausblicke auf Wattenmeer und Nordsee bietet. Wella-Erbin Claudia Ebert investierte hier rund 60?Millionen. Das dazugehörige Hotel mit 79?Zimmern und Suiten und einem 1000-m²-Spa direkt über dem Meer ist eine Oase der Ruhe. Im Restaurant Strönholt, dem neuesten Gourmet-Treff am Golfplatz, stehen regionale Spezialitäten im Mittelpunkt. Ob Carpaccio von zotteligen kleinwüchsigen Calloway-Rindern, Salzwiesenlamm, Ziegenkäse oder Sylter Austern – die Insel hat kulinarisch viel zu bieten.
Ein weiteres Highlight auf der Insel ist das Restaurant Bodendorf’s im wohl unkonventionellsten 5-Sterne-Luxushotel Landhaus Stricker. Sternekoch Holger Bodendorf versteht sich nicht nur auf die feine gehobene Küche mit französischem Akzent, er bereitet auch Saisonales wie Grünkohl mit Finesse zu. Bei dem traditionellen Biikebrennen auf Deutschlands nördlichster Insel gehört das gesunde Wintergemüse einfach dazu. An diesem Tag gibt es keine Trennung von Gourmet und Vital-Kräuterküche: Grünkohl ist für alle da. Und so manchem Inselgast und Insulaner wird beim Blick in die Flammen wehmütig bewusst, dass die schönste Zeit des Jahres jetzt bald zu Ende geht. Denn der Winter – das ist die Zeit, in der nicht nur Schriftsteller und Dichter wie Theodor Storm, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer oder Thomas Mann ihre stimmungsvollsten literarischen Hymnen auf die Insel gesungen und Maler wie Lovis Corinth und Emil Nolde eindrucksvolle Bilder geschaffen haben. Es ist auch die Zeit, in der «Sylt am authentischsten ist», wie Jogi Löw, selbst ein bekennender Sylt-Liebhaber, meint.
Regelmässig macht er Kurztrips auf die Insel. Dieses Mal taucht er in der Nähe des «Beachhouse» in Westerland auf. Schnell wurde das Idol der deutschen Nation von Menschenmassen umringt. Mit geradezu erstaunlichem Gleichmut bediente er Jung und Alt mit Autogrammen und war sich auch für kein Selfie zu schade. Sicher wäre ihm weniger Aufmerksamkeit lieber gewesen, aber so ist unser Jogi eben, ein Mensch zum Anfassen, der bei allem Erfolg eine unglaubliche Sympathie und Bescheidenheit ausstrahlt. Er ist ein Star, der deutsche Fussballgeschichte geschrieben hat. Ein Mann der leisen Töne, der kein grosses Aufheben um seine Person macht und trotzdem durch seine elegante Erscheinung und sein modisches Understatement unverkennbar ist.
«Sylt ist für mich Freiheit, Leben, Luft, Meer – einfach schön! Wenn ich ans Wasser gehe und meinen Gedanken freien Lauf lasse, ist das für mich wie eine Meditation und es gibt mir Kraft für die neuen Aufgaben, die mir auch zukünftig als Nationaltrainer gestellt werden. Sylt ist eben nicht nur für die Reichen und Schönen, sondern auch Menschen wie Du und ich. Auf Sylt zu sein, bedeutet für mich immer ein bisschen Heimkommen.»
Vielleicht besteht der echte Mythos der Insel darin, dass hier jeder sein kann, wie er möchte, und findet, was er sucht.