
Schritt für Schritt: Über das Wandern
- November 17, 2016
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«Auf die Berge will ich steigen», hat schon der deutsche Dichter Heinrich Heine zu Beginn des Wanderhypes festgestellt, und dieser Wunsch treibt noch heute unzählige Menschen zu Gipfelbesteigungen, Gratwanderungen oder einfachen Bergtouren an. Doch auch in der Ebene übt Wandern auf den Menschen einen eigentümlichen Zauber aus. «Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt», hat der weise Laotse in einem umnachteten Moment vor über 2?600??Jahren verfasst. Doch ist diese Art von Tageskalendersprüchen noch vor dem Morgengrauen für jeden, der kein notorischer Frühaufsteher ist, blanker Hohn. Jede Wanderung beginnt mit müden Gliedern und mürrisch getrunkenem Kaffee – ob schweigend im Zug, auf dem Autositz mit offener Tür am Fusse des Berges oder in der Morgendämmerung auf einer der unzähligen Berghütten. Es ist leider für unsere kulturverwöhnten Körper des 21.?Jahrhunderts noch immer so, dass Wandern dann am schönsten ist, wenn man früh aufbricht und mittags den Gipfel hinter sich lassen kann. Doch wenn nach den ersten Schritten die Müdigkeit der Kraft weicht, dann wird man dankbar, sich von dem wollig-warmen Bett fortgerissen zu haben. Das Knirschen unter der Sohle, die noch morgenfeuchte Luft und der erste Vogelgesang vertreiben die morgig-grimmige Laune.
Vom ersten Schritt
In der Menschheitsgeschichte kam mit dem aufrechten Gang das Leben als Nomade und die damit verbundene Wanderschaft. Vielleicht liegt es daran, dass noch heute das Wandern für denjenigen, der wandert, eine beruhigende und fast meditative Wirkung hat, und es zu einer Flut an Sinnsprüchen geführt hat, die Tageskalender füllen. In den letzten Jahren hat sich der Jakobsweg zu Europas Wander-Autobahn entwickelt, auf der weniger die katholische Pilgerreise als die Selbsterfahrung im Vordergrund steht. Das Wandern als Weg zu sich: eine Introspektive auf dem jahrhundertealten Sündenpfad nach Santiago de Compostela. Die einfache Tätigkeit des Gehens, die simplen Herbergen und der klare Weg reduzieren auf das «Wesentliche». Für den deutschen Essayist Hofmiller ist Wandern eine «…?Tätigkeit der Beine und ein Zustand der Seele», für die Menschen Stock und Stein überwinden. Nicht der Gipfel, die Hütte oder das Zuhause ist das Ziel, sondern das Wandern.
Natürlich Ausschreiten
Meistens reicht schon eine Tagestour, um Abstand zur Hektik des Alltags zu gewinnen und wieder «zu sich» zu kommen. Doch man verlässt beim Wandern auch die heimische Umgebung und geht «zurück in die Natur». Das ist ein Gedanke, der mit dem Aufklärer Jean-Jacques Rousseau populär wurde und der seitdem fest mit dem Wandern verbunden ist. Beim Wandern tauscht man die «dekadente» Zivilisation gegen eine erfrischende, vitale Natur: den grauen Asphalt gegen die grüne Wiese. Vielleicht liegt darin der Grund für die Faszination der weiten, unberührten Landschaften des Himalayas, Norwegens oder des Ausblicks vom Gipfel. «Alle Menschen werden die Wahrnehmungen machen, dass man auf hohen Bergen, wo die Luft rein und dünn ist, freier atmet und sich körperlich leichter und geistig heiterer fühlt.» So oder so ähnlich gilt noch heute die Feststellung von Rousseau, und nach einer anstrengenden und befriedigenden Tour gibt man sich hungrig mit ehrlichem Essen zufrieden, bevor man in dem einfachen Lager in einen tiefen Schlaf fällt.
An den Sohlen gelernt
Das Wandern ist seit über 300?Jahren von einer Notwendigkeit zum Hobby geworden. Die Jahrhunderte davor wanderten Handwerker von Stadt zu Stadt und Studenten von Universität zu Universität. Sie schlossen sich zum Schutz vor Strassenräubern Strassenkünstlern und Badern an, die durch die Lande streiften. Doch als mit dem wachsenden Reichtum und dem jungen Verkehrsmittel, der Eisenbahn, so etwas wie Urlaub bezahlbar wurde, wurde das Wandern als Hobby populär. Man erwanderte Land und Leute und die langsame Fortbewegung zu Fuss behielt etwas von dem alten Bildungsaspekt: «Was ich nicht erlernt habe, das habe ich erwandert», stellte der Dichterfürst Goethe fest und trifft damit noch heute den Kern der Erfahrungen, die man zu Fuss machen kann.
Gipfelstürmer
1857 begannen Engländer, die Alpen zu erobern. Sie galten bis dahin als gefährlich und hässlich, doch änderte sich der Blick auf die karge und grosse Landschaft. Die Alpen wurden zu einem beliebten Urlaubsgebiet und Berggipfel zur privaten Herausforderung, an denen sich Massen messen konnten. Noch heute zieht es in den Sommermonaten ganze Heerscharen über die Alpen nach Meran. Doch das rein Sportliche wurde bald wieder durch die anderen Aspekte des Wanderns eingeholt. Für den italienischen Bergsteiger Cesare Maestri ist der Alpinismus «…?kein Sport, kein Wettkampf, sondern eine Philosophie, eine Lebensform.» Und ob diese Philosophie nun seit dem aufrechten Gang oder seit Jahrhunderten betrieben wird, ist auf dem Gipfel nach einem langen Aufstieg oder bei einer kurzen Rast mit Ausblick letztlich egal.