
«Mein Herz ist grün …»
- Oktober 6, 2014
- 0 comments
- typo2wp
- Posted in Gadgets
- 0
Irland im Spannungsfeld von Kirche und Politik
Einmal im Jahr, genauer gesagt, am 17. März sehen Iren auf der ganzen Welt grün. Dieses Datum markiert nämlich nicht nur den offiziellen Nationalfeiertag des ins Straucheln geratenen «keltischen Tigers», sondern auch das Fest des irischen Schutzpatrons St. Patrick. Dessen offizielle Farbe war ursprünglich zwar Blau, aber das ist eine andere Geschichte.
Ein Grund zum Feiern ist der Todestag des von zahllosen Mythen und Legenden umwobenen Nationalheiligen der kleinen Insel am sturmumtosten Westzipfel der alten Welt für die rund 4,5 Millionen Europäer mit irischem Pass und weltweit mehr als 70 Millionen Menschen, die sich auf irische Wurzeln berufen, allemal. Ja, mittlerweile hat sich der St. Patrick´s Day zu einem kulturübergreifenden Massenevent gemausert und manche feiern an diesem Tag einen Mann, den sie allenfalls vom Hörensagen kennen.
Cheers! Auf Kleeblätter und Elfen …
Böse Zungen behaupten, der Anfang des 17. Jahrhunderts eingeführte Gedenktag sei bei den trinkfesten Insulanern nur deshalb so beliebt, weil er kalendarisch zwar in die Fastenzeit fällt, die Kirche für den 17. März aber alljährlich einen Fastendispens erteilt. Auf gut Deutsch: Zu Ehren des Heiligen darf trotz Fastengebot hemmungslos gezecht werden. Und so fliessen an diesem Tag zwischen Dublin und Belfast, zwischen Boston und New York, zwischen Mumbai und Sydney Guinness, Smithwick´s, Cider und Co. in Strömen.
Allgegenwärtiges Symbol Patrick’s ist das dreiblättrige Kleeblatt, mit dessen Hilfe der Heilige der Legende nach dem König von Tara vor mehr als 1 500 Jahren das göttliche Prinzip der Dreifaltigkeit erklärte. Dass aber auch der Glaube an Elfen, Feen und Naturgeister bei den Iren trotz mehrheitlich stramm römisch-katholischer Gesinnung noch immer tief verwurzelt ist, zeigt sich zum Beispiel in der Gestalt des am St. Patrick’s Day ebenfalls omnipräsenten Leprechaun – einer der bekanntesten Bewohner des irischen Elfenreichs und Wahrzeichen unzähliger Irish Pubs auf der ganzen Welt. Dieser kleine Geselle mit rotem Haarschopf und gleichfarbigem Bart, bekleidet mit einem grasgrünen Anzug und keckem Zylinderhut ist als Schuster der Fabelwesen bekannt. Ausserdem gilt er als Hüter eines gewaltigen Goldschatzes, den er wie seinen Augapfel hütet und vor geldgierigen Menschen am Ende eines Regenbogens verborgen hält.
Noch heute gibt es mit Tom O’Rahilly in Irland einen offiziellen Elfenbeauftragten – in Personalunion auch Direktor des Dubliner Elfenmuseums. Er prüft bei der Planung öffentlicher Bauten, vor allem von Strassen, ob die neue Trasse nicht angestammtes Feenland tangiert oder dem Projekt womöglich eines der zahlreichen über die ganze Insel verteilten Feenbäumchens weichen muss, was nach Meinung vieler Iren fatale Folgen haben kann. Im Zweifelsfall wird die Strasse dann lieber verlegt oder um das Bäumchen herum gebaut – auch wenn das ein paar Millionen mehr kostet wie zum Beispiel im County Clare bei Ennis während der Konstruktion der Nationalstrasse von Limerick nach Galway. Kein Scherz! Man weiss ja nie. Schliesslich gab es bei einem anderen Projekt, der M7 zwischen Birdhill und Limerick, die trotz aller Warnungen durch Elfenterritorium führt, tatsächlich massive Probleme mit Geländeverwerfungen. Manche Fahrbahnabschnitte versanken schlicht auf Nimmerwiedersehen im Erdboden, andere wölbten sich wie ein aufgehender Hefeteig. Ungläubige mögen das auf den unwägbaren Untergrund und Pfusch am Bau schieben – schliesslich bestehen 15 Prozent der Insel aus Moorflächen – andere sahen hier die erzürnten Elfen am Werk …
Doch zurück zum Heiligen Patrick, der vermutlich Anfang des 5. Jahrhunderts als Sohn eines römischen Soldaten im heutigen Wales geboren wurde und dessen Namenstag mittlerweile auch in der Schweiz für immer mehr Menschen Anlass für ein feuchtfröhliches Get-together ist.
Iren in der Schweiz
Nachdem das Fest jahrelang eher auf studentische Zirkel in Grossstädten wie Basel oder Zürich beschränkt blieb, leuchtete 2014 zum ersten Mal auch der Rheinfall in Schaffhausen rund um Patricks Ehrentag in leuchtendem Grün und war damit in bester Gesellschaft: das Empire State Building, das Sydney Opera House, der Taj Mahal, der Tafelberg in Kapstadt, die Pyramiden von Gizeh und rund 50 weitere symbolträchtige Monumente rund um den Globus, sie alle waren zu Ehren des Heiligen festlich illuminiert.
Wie viel von Patricks überliefertem Lebensweg, der als 16-Jähriger angeblich von marodierenden Horden nach Irland verschleppt und dort mehrere Jahre in der Provinz Ulster, dem heutigen Nordirland, Sklavendienste als Schafhirte leisten musste, bevor ihm die Flucht in die Heimat gelang und er einige Jahre später auf die Insel zurückkehrte, um den Iren das Christentum zu predigen, nun historischen Tatsachen entspricht, ist bis heute umstritten. Wahrscheinlich ist, dass das Leben und Wirken mehrerer Männer in der Gestalt Patricks zu einer einzigen Person verschmolzen ist. Doch das ficht gläubige und weniger gläubige Iren nicht an. Für sie ist Patrick bis zum heutigen Tag die wichtigste nationale Identifikationsfigur und aus dem Alltagsleben nicht wegzudenken. So ist Patrick, obwohl niemals offiziell von einem Papst kanonisiert, der einzige Heilige, dem an ein und demselben Ort, nämlich in Armagh, der spirituellen Hauptstadt des frühchristlichen Irland, gleich zwei Kathedralen gewidmet sind: eine römisch-katholische und eine anglikanisch-reformierte. Beide sind offizieller Bischofssitz und beide Amtsinhaber führen den offiziellen Titel «Primate of All Ireland» (Primat von ganz Irland). Wie das geht, wissen nur die Iren.
Entlang des St. Patrick’s Trail
Eine Reise auf den Spuren des Heiligen gewährt deshalb aber auch tiefe Einblicke in das Selbstverständnis der irischen Gesellschaft, was die Menschen hier prägt und was sie bewegt. Vor allem der erst vor Kurzem eingeweihte, rund 150 Kilometer lange St. Patrick’s Trail von Bangor an der Nordostküste über Downpartick nach Armagh eröffnet Menschen aller Nationen und ungeachtet ihres Glaubens die Möglichkeit, den Spuren zu folgen, die der streitbare Kirchenmann hinterlassen hat. Höhepunkte des Trails sind u. a. das steinerne Grab Patricks nahe der Down Kathedrale, gleich neben dem nationalen St. Patrick Visitor Centre. Oder Irlands ältestes noch erhaltenes Gotteshaus, die Kirche von Saul, die Patrick der Überlieferung nach unmittelbar nach seiner Landung in der Mündung des Slaney River in den Strangford Lough im Jahre 432 in der Scheune des lokalen Stammesfürsten Dichu errichtete und in der der Heilige rund 30 Jahre später am 17. März 461 auch starb.
Auch wer mit Kirche oder Glaube nicht viel anfangen kann – über diesem kleinen, völlig unscheinbaren Gotteshaus mitten auf einer grünen Wiese, umgeben von ein paar windschiefen, jahrhundertealten Grabsteinen liegt eine bewegende, fast schon mythische Stille, die mit Händen greifbar ist.
Die vielleicht beliebteste Pilgerstätte des Heiligen aber liegt nicht auf dem offiziellen St. Patrick’s Trail, der über seine gesamte Länge auf nordirischem Boden verläuft, sondern in der Provinz Mayo im Westen der Republik Irland: der rund 741 Meter aufragende Gipfel des Croagh Patrick. Den hat der erste Bischof der Iren im Jahre 441 bestiegen, um dort 40 Tage und Nächte lang zu fasten. Die Gipfelkapelle ist bis heute jedes Jahr Ziel Zehntausender Besucher, denn hier oben ist man dem Himmel im wahrsten Sinne des Wortes so nah wie kaum irgendwo sonst auf der Insel.
Sunday, bloody Sunday …
Doch um Irland und seine Bewohner wirklich zu verstehen, reicht ein Blick auf die frühchristliche Geschichte nicht aus. Seitdem der blutige Nordirlandkonflikt, dessen historische Wurzeln bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen und bei dessen letztem blutigen Aufflackern in den frühen 1970er-Jahren rund 4 000 Menschen im Alter zwischen 4 und 70 Jahren ihr Leben verloren, bevor er 1998 mit dem Karfreitagsabkommen offiziell beigelegt wurde, haben sich die Schauplätze von Blutvergiessen und Terror in Derry, 1972 Schauplatz des berüchtigten Bloody Sunday, vor allem aber in Belfast zu regelrechten Besuchermagneten entwickelt. Eine «Black Taxi Tour», angeboten von einer überkonfessionellen Truppe von Guides, die den Terror und das Leid jener Jahre am eigenen Leib erfahren haben, ist eines der beeindruckensten Erlebnisse für Besucher von Nordirlands Hauptstadt. Die rund zweistündigen Rundfahrten mit Stopps an den neuralgischen Punkten der jüngsten Geschichte beginnen im protestantischen Teil der Stadt, an der berüchtigten Shankill Road. Dort erklärt uns der knapp 70-jährige Taxifahrer Bobby Thompson die unzähligen «murals», grell bunte Wandmalereien, die die Gewaltexzesse von UDF und UDA – paramilitärische Corps der Protestanten und Gegenstück zur katholischen IRA – bis heute auf fast unerträgliche Art verherrlichen. Was die Szenerie um so beklemmender macht: Das ist kein entvölkertes Freilichtmuseum, hier leben bis heute Menschen. Nicht weit entfernt liegt das Royal Victoria Hospital – in den 1970er- und 1980er-Jahren als Folge des Konflikts die weltweit führende Klinik für Schusswunden- und Bombenopfer. Weiter stadteinwärts stösst man nach einem Streifen Niemandsland auf eine bis zu 15 Meter hohe Mauer, die das protestantische Viertel von der katholischen Falls Road trennt. Noch mindestens bis 2030 wird dieses Symbol der Teilung bleiben, so haben es die Verantwortlichen der Stadt unlängst beschlossen. Man will auf Nummer sicher gehen. Hier übernimmt dann ein katholischer Kollege Thompsons die Leitung der Tour und erzählt mit zitternder Stimme wie sein bester Freund und dessen Bruder in den 1970er-Jahren von radikalen Protestanten ermordet wurden. Ihr Verbrechen: Der eine hatte eine Freundin auf der falschen Seite der Mauer. Auf deren Rückseite schmiegen sich heute im Vergleich zu den ärmlich wirkenden protestantischen Quartieren adrette kleine Backsteinhäuser in den Schatten der Demarkationslinie. Teilweise sind die Gebäude aber regelrecht von stählernen Gitterkäfigen umgeben – als Schutz vor Wurfgeschossen, die bis heute immer wieder über die Mauer fliegen. An ihrem Fuss liegt ein Ehrenmal für im «Freiheitskampf» gefallene IRA-Mitglieder und Zivilisten, manche davon Kinder – eine gespenstische Szenerie, die einem Tränen der Wut und der Verzweiflung in die Augen treibt.
Erst hier begreifen viele Besucher, was Bürgerkrieg wirklich bedeutet, dass es hier in Wahrheit nicht um Religion, sondern um Politik und Macht geht, und was jahrzehntelanger Hass auf beiden Seiten, der in einen Teufelskreis aus Terror und Gegenterror mündete, in der Seele eines Volkes angerichtet hat, was diese seit Jahrhunderten zerrissene Nation trennt, aber auch, was sie bis heute im Innersten zusammenhält. Keine leicht Kost, aber allemal eine Reise wert.