
Finnland: Seen und Schweigen
- Dezember 22, 2017
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Ein rotes Holzhäuschen in der Natur, davor ein See und ein kleiner Holzsteg. Onna steckt ihre Zehen ins Wasser. Sie blickt über die Weite des Sees. Onna ist Grafikdesignerin. Unter der Woche lebt sie in Helsinki. Nur am Wochenende fährt sie in ihr «mökki», ins Ferienhäuschen. Hier hat sie auch geheiratet. Barfuss und mit Blumenkranz im Haar. Heute zeigt sie mir ihr Finnland.
Ein finnisches «mökki» am See ist der ideale Ort, um zu merken, wie wenig man braucht, um zufrieden zu sein. Die meisten «mökkis» sind aus Holz und haben weder Elektrizität noch fliessendes Wasser, aber eine Sauna und einen Grillplatz. «Finnen sind sehr gesellig», erzählt Onna, «auch wenn wir dafür nicht viele Worte brauchen.» Finnen können stundenlang nebeneinandersitzen, gemeinsam auf den See schauen und die Zeit geniessen. Dass die Nordlichter keine unnötigen Worte verlieren, kennt man aus den Filmen der Kaurismäki-Brüder oder den Interviews mit Sportstars wie Rennfahrer Kimi Räikkönen. Raikkönen kommentiert regelmässig Fragen auf Pressekonferenzen zu seinem Befinden oder seiner Strategie mit einem Seufzer und einem Lächeln. Doch hinter der zunächst spröden Fassade der Finnen verbirgt sich jede Menge Humor und Ausgelassenheit. Bestes Beispiel hierfür sind die Weltmeisterschaften im Frauentragen, Matschfussball, Beerenpflücken (der Rekord liegt bei 27 Kilo Beeren in einer Stunde), Handyweitwurf und Luftgitarre-Spielen. Nach der finnischen Philosophie des Luftgitarre-Spielens gäbe es weder Krieg noch Klimawandel, wenn alle Menschen Luftgitarre spielten. «Früher gab es sogar Wettbewerbe im Mückenklatschen, Melkschemel-Weitwurf, Tischtrommeln, Gummistiefelweitwurf und auf einem Ameisenhaufen sitzen, wenn man nichts mehr zum Werfen hatte», sagt Onna, lässt ihre Füsse durch das glasklare Wasser gleiten und öffnet eine Flasche Fichtensaftsprudel.
Die letzte Wildnis Europas
Die Finnen sind nicht nur gesellig und lustig, sondern auch die Könige des Understatements. Sie sagen von ihrem Heimatland, glücklich und bescheiden, das Land der 1000 Seen zu sein. In Wirklichkeit aber ist Finnland das grösste Inselarchipel der Welt. Mit über 180 000 Seen und 70 000 kleinen Inseln. Die Seen dort sind so gross, dass Finnland in Relation zur Landmasse die grösste von Wasser bedeckte Fläche aller Länder weltweit hat. Und zugleich die saubersten Gewässer der Welt mit der saubersten Luft der Welt. Das Schöne: Die Inseln in den Seen liegen alle dicht beieinander und sind leicht mit dem Kanu, einem Jet-Ski oder auf einem Segelturn zu erreichen. Auf den Inseln selbst gilt das Jedermannsrecht (auf Finnisch: Jokamiehen Oikeus). Man darf Fische angeln sowie Pilze und Beeren pflücken, so viel man möchte. Neben Blaubeeren und Preiselbeeren sind die gelben Moltebeeren eine nordische Besonderheit – besonders als heisse Fruchtsauce über Vanilleeis. Ausserdem darf jeder überall unter freiem Himmel übernachten. «Wie lange das Jedermannsrecht schon gilt, weiss man nicht», sagt Onna. «Es hat sich einfach keiner die Mühe gemacht, es detailliert aufzuschreiben.» Warum auch, wenn man seine Zeit viel besser in der Natur verbringen kann. Die Natur, die Seen und die Inseln sind wild, unverfälscht und einmalig schön in Finnland. Ein Grossteil der Inseln befindet sich vor Turku. Die älteste und zweitgrösste Stadt Finnlands ist deshalb ein guter Ausgangspunkt, um ein finnisches Entspannungs- oder Outdoor-Wochenende zu starten. Doch Turku muss warten. Onna zieht ihre Füsse aus dem Wasser, läuft über den Holzsteg hinüber zur Sauna, die am Ufer einen Steinwurf vom «mökki» entfernt steht. Sie zündet die Holzscheite im Saunaofen an und lässt die Sauna vorheizen, während wir über den weichen moosigen Boden zurück zum «mökki» schlendern.
Wir sehen uns in der Sauna!
Etwas später sitze ich in ein kleines Handtuch gewickelt in der Sauna. Onna raschelt mit einigen Ästen herum. Birkenzweige. Sanft schlägt man diese gegen die Beine, auf die Arme und, wenn man gelenkig ist, auf den Rücken. «So!», Onna macht es vor. Das regt die Durchblutung an, wirkt wie eine Massage und hilft dem Körper, sich zu regenerieren. «Sauna» ist übrigens das einzige Wort, das aus der finnischen Sprache aus- und in andere Sprachen eingewandert ist. In Finnland saunieren Männer und Frauen grundsätzlich getrennt, das gilt auch bei Besuchen in der Privatsauna. Ansonsten gibt es nur eine einzige Regel: Es gibt keine! Ein Handtuch zum Draufsitzen. Fertig. Keine Aromaaufgüsse, kein Handtuchwedeln, keine Stoppuhr. Man geht raus, wenn man möchte. Springt in den See, isst eine Wurst und geht wieder hinein. Oder auch nicht. «Die Finnen sind sehr geschickt, eine Gelegenheit zu finden, um Würstchen zu essen», erzählt Onna. «Kein Spaziergang, keine Ski-Tour, kein Ausflug, ohne danach ‚lenkkimakkara‘ zu grillen.» Selbst zwischen den Saunagängen darf also die Wurst nicht fehlen. Saunieren ist in Finnland keine Freizeitbeschäftigung, sondern ein Grundbedürfnis, ein Lebensgefühl, der kürzeste Weg zum Glück. Die Zahl der Saunas wird auf mehr als drei Millionen geschätzt – bei knapp 5,4 Millionen Einwohnern.
Eins, zwei, drei, vier
«Dass Finnland überhaupt fünf Millionen Einwohner hat, ist allein dem Tango zu verdanken», sagt Onna augenzwinkernd und ergänzt: «Das hat zumindest der Philosoph und Musiker Mauri Antero Numminen behauptet.» Der Tango ist in Finnland Volkstanz, Hymne und Partnervermittlung zugleich. Getanzt wird in Moll. Denn ein bisschen Unglücklichsein gehört für die Finnen zum Glücklichsein dazu. So richtig versteht man die leidenschaftliche Melancholie, mit der getanzt wird, wenn man den Texten des finnischen Tangos lauscht. Die stakkatohafte Sprache mit ihren vielen K’s, rollenden R’s und dann wieder zögerlichen Ä’s ist der wunderbarste Klangteppich für marschierende Tanzschritte und die Gleichmütigkeit, mit der die Finnen tanzen. Nicht zu vergleichen mit der Haltung der argentinischen Tangotänzer, die viel zu extrovertiert für das finnische Gemüt wäre. Der Legende nach soll der Tango von südamerikanischen Matrosen nach Finnland gebracht worden sein. Heute tanzt man Tango auf den Dörfern. Jedes Dorf hat seinen eigenen Tanzpavillon im Freien für die Mittsommernächte, in denen es auch nachts taghell bleibt. Berühmt ist das jährliche Tango-Festival im westfinnischen Seinäjöki.
Nichts sagen heisst, zufrieden sein
Im finnischen Sommer verliert man schnell das Gefühl für die Zeit und ist auch nachts um eins noch so beschwingt wie morgens um neun. Ganz anders ist der Winter. Die Winter in Finnland sind zappenduster. Nur der Schnee bringt dann Lichtreflexe in die Welt. Im Winter zieht man auf Langlaufskiern leise knirschend Spuren in den glitzernden Schnee, fährt mit dem Husky-Schlitten durch die eisig klirrende Luft oder besucht in Lappland, am nördlichsten Zipfel der Welt, eine Rentierfarm und in Rovaniemi den Weihnachtsmann, der Besucher das ganze Jahr willkommen heisst. Über sechs Wochen lang wird es in Lappland nicht hell, noch nicht einmal dämmerig. Umso intensiver leuchten dann die Polarlichter am schwarzen Himmel – eines der beeindruckendsten Naturphänomene der Welt. Onna und ich fahren zurück nach Helsinki, vorbei an Schildern mit Ortsnamen, die aussehen wie verschüttete Buchstabensuppe. Ab und zu schaut Onna zu mir herüber. Und lächelt. Ich auch. Und schweige. Denn eins habe ich von den Finnen gelernt: Beisammensein und nichts sagen heisst, glücklich zu sein.