
Eiskaltes Know-how
- Januar 25, 2019
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- Urs Huebscher
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Mit Schaufel und Wasserschlauch baut eine Gruppe Südtiroler jedes Jahr die grösste Schneeskulptur der Welt: die Natureis-Bobbahn in St. Moritz, die einzige ihrer Art.
Es ist zwar eine Weile her, doch jeden Winter, wenn im TV im Wochenrhythmus über die verschiedensten sportlichen Highlights berichtet wird, kommt die Erinnerung wieder hoch. Insbesondere dann, wenn Athletinnen und Athleten in ihren rasenden Blechzigarren durch Eiskanäle talwärts flitzen.
Es war an einem frühen Novembermorgen im Engadin. Eine Gruppe Männer steht mit Schaufeln in den Händen im Schnee. Ein Kipplaster karrt mehr Schnee heran, lädt die Last ab und entfernt sich mit knatterndem Motor. Einige Männer arbeiten schweigend. Einer von ihnen wässert mit einem Feuerwehrschlauch den Schnee, die übrigen schichten den Schneematsch zu einer Mauer. Wie ein Tatzelwurm arbeiten sie sich behände durch die Schneelandschaft. Unter ihren Schaufelblättern nimmt der erste Streckenabschnitt der Bobbahn langsam Form an.
Im Jahr 1904 erstmals gebaut, ist der Olympia Bob Run St. Moritz–Celerina nicht nur die älteste, er ist auch die einzige Natureisbahn der Welt. Jeden Winter wird sie aufs Neue auf die Wiese gestellt von Spezialisten, die aus einem Dorf bei Meran stammen: aus Naturns. Von Ende November bis zum Saisonschluss Anfang März stehen sie täglich an der Bahn, die sich von St. Moritz bis ins benachbarte Celerina durch den Nadelwald windet. 130 Höhenmeter legen die schweren Schlitten später auf ihrem Weg ins Ziel zurück und erreichen dabei Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 150 Stundenkilometern. Zweieinhalb Wochen dauert es, die 1’722 Meter lange Bahn in die Landschaft zu meisseln. Acht Stunden täglich modellieren die Eisskulpteure in dieser Zeit die Strecke. Das Ergebnis ist ein Kunstwerk aus über 10‘000 Kubikmetern Schnee und rund 7’000 Kubikmetern Wasser.
Eine anstrengende Arbeit»
Der Zusammenhalt im Südtiroler Team ist ganz offensichtlich gross, unter den Arbeitern weiss jeder, was er zu tun hat. «Es gehen schon sehr lange Naturnser nach St. Moritz, und da hat es auch bei mir geheissen: Komm einmal mit», erinnert sich Alfred Nischler.
Wenn die Bahn kurz vor Weihnachten steht, bekommt jeder der Männer einen Streckenabschnitt zugeteilt. Denn die Südtiroler bauen die Bahn nicht nur, sie halten sie auch in Schuss. Nischler ist für das Herzstück des Eiskanals zuständig: den Horse Shoe, eine von zwei mit Natursteinen verstärkten Kurven. Jede der 19 Kurven des Olympia Bob Run hat ihren eigenen Namen: Sunny Corner etwa ist der sonnigste Streckenabschnitt, der Gunter Sachs Corner ist nach dem ehemaligen Präsidenten des St. Moritz Bobsleigh Club benannt.
Ein vergängliches Kunstwerk
Mit ernstem Blick steht Nischler an der Bahn, bläst Atemwolken in die Luft. Die Temperaturen liegen einige Grade unter null, auf der Eisschicht hat sich ein Wasserfilm gebildet. Gute Bedingungen für die Athleten. Ein Tosen wie von einem Güterwagen, dann schiesst ein rot-weisser Bob in die enge Kurve, hängt kurz waagrecht in der Luft und steuert im nächsten Moment auf den Telephone Corner zu. Eissplitter rieseln Nischler vor die Füsse.
Etwa vier Meter hoch ist die Eiswand im Horse Shoe, dem gefährlichsten Abschnitt. Nähert sich ein Viererbob mit seinen 630 Kilogramm und 100 Stundenkilometern der hufeisenförmigen Kurve, presst fast fünffache Schwerkraft die Fahrer in den Schlitten. Das hinterlässt Spuren. Dort, wo die Kufen Rillen ins Eis gedrückt haben, füllt Nischler die kaputten Stellen mit Eisabrieb auf und glättet sie. Bis zu zwölf Stunden täglich patrouillieren die Baumeister an der Bahn. Frühmorgens schon spritzen sie die Eiswand, nachmittags nach Betriebsschluss präparieren sie ihren Abschnitt.
Bis zur letzten Abfahrt im März folgt Nischlers Tag diesem Rhythmus. Einmal im Jahr fährt er selbst in einem Bob mit – um zu sehen, wie sich die Strecke fährt. Je näher der Frühling rückt, desto schwerer haben es die aufgespannten Sonnensegel, ihren Dienst zu tun. Bis die Männer sie entfernen und die Engadiner Märzsonne die Bahn vom Schnee befreit. Ein vergängliches Kunstwerk. Nischler wird es in der nächsten Saison wohl wieder mit Muskelkraft und einem geübten Auge in den Schnee stellen: «So lange es die Gesundheit mitmacht», sagt er und lacht.
Foto@Göran Strand